Ich war mir jahrelang sicher, dass ich in der achten Klasse ein zweiwöchiges Praktikum als Floristin gemacht habe. Ich konnte genau beschreiben, wie ich Sträuße gebunden habe und dafür stundenlang im kühlen Keller an einem riesigen Tisch stand. Das Bild war so lebendig, dass ich nie Zweifel daran hatte.
Bis meine Mutter mich eines Tages darauf hinwies, dass ich nach dem ersten Tag krank geworden war. Mandelentzündung.
Ich war verwundert. Nicht wegen der Mandelentzündung, sondern darüber, dass ich so lange etwas Falsches geglaubt habe.
Diese Erinnerung war ein Baustein meines Selbstbildes, das mir zeigte, dass ich eine engagierte, kreative und belastbare Jugendliche war. Auch wenn es nie passiert ist.
Wer bin ich und kann ich überhaupt wissen, wer ich bin?
Als ich nach vielen Jahren eine Freundin aus meiner Jugendzeit wiedertraf, sagte sie irgendwann zu mir: „Du bist immer noch dieselbe.” Was ich super interessant fand, denn ich glaubte, dass ich mich enorm verändert hatte. Ich sah mittlerweile anders aus, dachte anders und fühlte anders. Ich machte ganz andere Dinge als früher. Und dennoch hatte sie irgendwie recht, denn das Gespräch mit ihr fühlte sich so an, als hätten wir uns erst gestern gesehen. Dabei lagen fünfzehn Jahre dazwischen.
Es gibt ein spannendes philosophisches Gedankenexperiment zu diesem Thema: „Das Schiff des Theseus”. Ein Schiff wird über Jahre hinweg Stück für Stück erneuert, bis eines Tages kein einziges Teil mehr original ist. Die Frage ist: Ist es dann noch dasselbe Schiff? Und wenn man aus den alten Teilen das ursprüngliche Schiff nachbaut, welches ist dann das echte?
Ein animiertes Kurzvideo dazu verlinke ich dir am Ende des Artikels.
Wir verändern uns ständig. Nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich.
Trotzdem fühlen wir uns als dieselbe Person.
Warum?
Der englische Philosoph John Locke fand im 17. Jahrhundert eine Antwort darauf. Er sagt, dass Erinnerungen für unsere Identität eine entscheidende Rolle spielen. Sie machen uns zu der Person, die wir sind.
Und was sind Erinnerungen anderes als die Geschichten, die wir immer wieder über uns erzählen.
Aber was passiert, wenn diese Erinnerungen falsch sind?
Und genau diesem Albtraum, steht meine Protagonistin Madeline gegenüber.
Madelines Geschichte: Wenn Erinnerung zur Lüge wird
In meinem Thriller (#thrillerprojektmemory) ist Madeline überzeugt, zu wissen, was damals geschehen ist. Sie war fünf Jahre alt, als ihre Mutter vor ihren Augen ermordet wurde. Ihre Aussage brachte einen Mann hinter Gitter. Fünfundzwanzig Jahre später muss sie sich die Frage stellen:
Was, wenn ihre Erinnerung falsch war?
Wenn der Mann unschuldig im Gefängnis saß und der wahre Täter noch frei ist?
Doch es geht nicht nur um Schuld und Gerechtigkeit. Es geht darum, dass Madeline plötzlich nicht mehr weiß, wer sie ist, wenn das, was sie über sich glaubt, nicht mehr stimmt.
Die fragile Konstruktion „Ich”
Ich habe beim Schreiben oft inne gehalten und mich gefragt: Welche meiner Erinnerungen sind eigentlich echt? Und wie sehr hängt mein Bild von mir – von meiner Loyalität, meiner Stärke, meiner Schuld – an Dingen, die vielleicht nie passiert sind?
Ich glaube, was oft genug erzählt, erinnert oder wiederholt wird, wird wahr – zumindest für uns. Und das macht uns nicht schwach, sondern menschlich. Es bedeutet aber auch, dass wir manipulierbar und somit verletzlich sind.
Was mich daran zutiefst beunruhigt, ist nicht die Fehlerhaftigkeit, sondern die Konsequenz. Dass eine falsche Erinnerung nicht nur einen Gerichtsprozess zum Kippen bringen kann, sondern ein ganzes Leben.
Kein Floristen-Praktikum und trotzdem kreativ
Ich weiß bis heute nicht, warum sich gerade das Praktikum als Floristin so tief bei mir eingebrannt hat. Vielleicht, weil ich damals unbedingt jemand sein wollte, der durchhält, kreativ ist, verlässlich und fleißig. Niemand, der nach einem Tag schon mit einer Mandelentzündung im Bett liegt. Wer weiß das schon so genau.
Und obwohl diese Erinnerung nicht stimmte, bin ich dennoch jemand geworden, der kreativ, verlässlich und fleißig ist.
Spannend, oder?
Welche Erinnerung hat dich besonders geprägt?
Und würdest du wissen wollen, ob sie echt ist oder lieber daran festhalten?
Schreib’s mir gern in die Kommentare.
Im nächsten Artikel stelle ich mir die Frage: Welche Auswirkungen es hätte, wenn man sich an alles in seinem Leben wieder erinnern könnte.
Wie versprochen, hier geht’s zum animierten Kurzvideo “Das Schiff des Theseus”.
Viel Spaß beim Experiment und denk dran:
Nicht jede Erinnerung ist, was sie zu sein scheint.
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