Ich erinnere mich noch genau an den Moment, als ich mit fünf Jahren zu meiner Oma sagte, dass die Katze die Porzellanfigur zerbrochen hätte. Meine Oma gab mir einen Schokoladenkeks, beugte sich zu mir herunter und sagte: “Wenn du das sagst, dann war es bestimmt die Katze.”
Heute weiß ich, dass meine Oma nie eine Katze hatte und dennoch kann ich diese Erinnerung abrufen wie einen Film.
Was, wenn wir etwas glauben, das nie passiert ist?
Und wie können wir sicher sein, welche Erinnerungen echt sind?
In meinem Fall mag es keine große Rolle spielen, wer die Porzellanfigur zerbrochen hat und ob die Erinnerung daran der Wahrheit entspricht. Aber was, wenn du eine Zeugenaussage machen musst und das Leben eines anderen Menschen davon abhängt, wie zuverlässig deine Erinnerung ist?
In meinem Thriller, der dieses Jahr veröffentlicht wird, geht es genau um diese Frage:
Kannst du deinen Erinnerungen trauen?
Unser Gedächtnis ist kein Archiv. Es ist ein Roman mit einem unzuverlässigen Erzähler.
Lange habe ich geglaubt, dass alles, woran ich mich erinnere, genauso passiert ist. Zum Verständnis: Ich gehe nicht davon aus, dass es die eine Wahrheit gibt, sondern dass wir alle die Welt durch unsere Filter wahrnehmen.
Ich spreche hier von Erinnerungen, die in uns wohnen, obwohl sie nie unsere waren.
Erinnerungen, die wir erzählen, weil sie uns immer wieder erzählt wurden.
Erinnerungen, die sich wie eigene anfühlen, weil wir die Bilder dazu irgendwann in unseren Gedanken selbst gemalt haben.
Kennt ihr das Foto von eurem ersten Geburtstag, von dem ihr glaubt, euch erinnern zu können, obwohl ihr erst ein Jahr alt wart?
Als mir das Buch “Das trügerische Gedächtnis: Wie unser Gehirn Erinnerungen fälscht” von Dr. Julia Shaw in die Hände fiel, war das für mich wie ein Schlag ins Gesicht und gleichzeitig eine Einladung, mein Denken zu hinterfragen. Durch sie habe ich erfahren, dass unser Gehirn nicht wie ein neutraler Speicher funktioniert. Eher wie ein unzuverlässiger Erzähler in einem Roman, der versucht, eine logische Geschichte zu erschaffen. Einer, der Lücken füllt, Zusammenhänge erfindet und manchmal auch Erlebnisse anderer als die eigenen ausgibt.
Das klingt faszinierend, macht aber auch eine scheiß Angst. Denn das bedeutet im Umkehrschluss, dass unsere Erinnerungen manipulierbar sind.
Was, wenn deine Erinnerung jemanden zerstört?
Genau diese Frage hat mich nicht mehr losgelassen und zu meinem Roman #thrillerprojektmemory (Arbeitstitel) inspiriert.
Was wäre, wenn durch deine falschen Erinnerungen das Leben eines anderen Menschen zerstört würde?
Wenn du mit fünf Jahren vor Gericht ausgesagt hast und ein Mann dafür im Gefängnis gelandet ist?
Und was, wenn du Jahrzehnte später erkennen musst, dass nichts davon wahr ist?
Dass deine Erinnerung vielleicht gar nicht deine ist?
Meine Protagonistin Madeline stellt sich genau dieser Hölle. Und sie geht sogar noch einen Schritt weiter. Sie schleust sich in eine Medikamentenstudie ein, um sich zu erinnern. Um herauszufinden, was damals wirklich geschehen ist.
Die gefährliche Macht falscher Erinnerungen
Falsche Erinnerungen sind kein Plot-Gimmick. In der Psychologie nennt man das False Memory Syndrome. Schon ein suggestiv formulierter Satz kann reichen, um dein Gedächtnis umzuprogrammieren. Und wir reden hier von Sprache, die so zerstörerisch werden kann wie eine Waffe. Besonders gefährlich wird es bei Verhören durch die Polizei oder in der Psychotherapie.
Bei meiner Recherche bin ich auf einen Artikel gestoßen, der davon berichtet, dass in den 1990er-Jahren die sogenannte Recovered Memory-Therapie in die Kritik geriet. Durch diese Therapie wurden zahlreichen Patienten vermeintlich verdrängte Missbrauchserinnerungen eingepflanzt, die sich später als falsch herausstellten.
Die False Memory Syndrome Foundation (FMSF) wurde von beschuldigten Eltern gegründet, die sich gegen falsche Missbrauchsvorwürfe ihrer Kinder wehrten. Führende Psychologen warnten vor dieser Therapieform und stuften sie als gefährlich ein. In der Folge verklagten Betroffene zahlreiche Therapeuten. Viele Verfahren endeten mit millionenschweren Schadensersatzzahlungen.
Diese heftige Auseinandersetzung ging als Memory Wars in die Psychotherapiegeschichte ein und war von extremer gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Polarisierung geprägt.
Ich konnte es kaum glauben. Vermutlich ging es Dr. Julia Shaw ähnlich, als sie ein Experiment zur Erforschung von Erinnerungen gemacht hat. Sie schaffte es, Versuchspersonen innerhalb weniger Gespräche eine fiktive Straftat einzupflanzen, mit so vielen Details, dass sie selbst daran glaubten, diese Straftaten begangen zu haben.
Das ist verstörend.
Das macht uns verletzlich.
Und manchmal gefährlich.
Was bleibt, wenn wir unserem eigenen Kopf nicht mehr trauen können?
Das trügerische Ich
Ich weiß nicht, was mich mehr verstört, dass mein eigenes Gedächtnis so fehlbar ist oder dass Sprache allein genügt, um falsche Erinnerungen in uns zu verankern. Vielleicht ist das der eigentliche Horror hinter dieser Erkenntnis, dass wir selbst zum Risiko werden können – für andere und für uns selbst.
Was denkst du? Wie viel Wahrheit würdest du wissen wollen, wenn sie dein Bild von dir und anderen völlig verändert? Schreib’s mir gern in die Kommentare. Ich bin gespannt auf deinen Blick auf dieses verstörend spannende Thema.
Im nächsten Artikel geht’s genau darum: Wer bin ich, wenn ich meinen Erinnerungen nicht mehr trauen kann? Und was bleibt, wenn meine Geschichte sich als Illusion entpuppt? Wie eng sind unsere Erinnerungen mit unserer Identität verwoben?